Deutscher Jugendliteraturpreis 2019
Zur Leipziger Buchmesse im März wurden die Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2019 verkündet, die ihr alle hier nachlesen könnt.
Auch dieses Jahr wollen wir euch unsere Favoriten und die Gewinner in den Kategorien Kinderbuch, Bilderbuch, Sachbuch, Jugendbuch und Preis der Jugendjury nicht vorenthalten! Die Preisverleihung fand am 18. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse stat, wo wir natürlich vor Ort waren.
Bild oben Plakatmotiv © AKJ / Øyvind Torseter
Über den Deutschen Jugendliteraturpreis:
Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird seit 1956 jährlich vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet und vom Arbeitskreis für Jugendliteratur ausgerichtet. Ziel des Deutschen Jugendliteraturpreises ist es, Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeit zu stärken und ihnen Orientierungshilfe bei einem schier unüberschaubaren Buchmarkt zu bieten. Ausgezeichnet werden herausragende Werke der Kinder- und Jugendliteratur.
Unser Favorit in der Kategorie Bilderbuch
Joanne Schwartz /Sydney Smith (Illustration) / Bernadette Ott (Übersetzung)
Stadt am Meer
ISBN: 978-3-8489-0144-9
Aladin
18,00 €
Ab 6 Jahren
Jurybegründung
Hier erleben die Leserinnen und Leser durch die Augen der kindlichen Hauptfigur einen unbeschwerten Sommertag irgendwo in einer kleinen Stadt am Meer. Ein Junge wird vom Möwengeschrei geweckt, er spielt, er erledigt für seine Mutter kleine Besorgungen. Joanne Schwartz lässt ihn seinen Tag in ruhigen Worten schildern.
Immer erzählt der Junge dabei auch von seinem Vater, der als Bergmann tief drunten unter dem Meer nach Kohle gräbt. Die Gedanken an den Vater wiederholen sich ebenso wie die heranrauschende Brandung des Meeres. Illustriert werden sie mit querformatigen Doppelseiten voller Schwärze, die den arbeitenden Bergleuten ganz am unteren Bildrand kaum Raum zugestehen.
Durch den Kontrast von sonnenglitzerndem, lichtdurchflutetem Tag und dem dumpfen Schwarz des Bergbaus verleiht Sydney Smith dem Buch große Spannung. Obwohl der Text sie nicht nennt, schwingen in den Bildern Bedrohung und Angst mit, die gebannt weiterblättern lassen: Wird der Vater am Abend unversehrt aus der Tiefe zurückkehren? Ein atemberaubendes Porträt einer vergangenen Zeit, das ein poetisches Licht auf einen selten gewordenen Beruf wirft.
Der Gewinner in der Kategorie Bilderbuch
Jurybegründung
Igor war in seinen besten Jahren als Zirkushund unterwegs mit den ganz großen Künstlern und Artisten. Aber diese Zeiten sind vorbei. Jetzt lebt er bei Olas Lieblingstante. Er ist in die Jahre gekommen, schläft viel und riecht nach sehr altem Wollpullover. Wenn aber die Familie zusammenkommt und vom Schallplattenspieler die Polka-Klänge von früher ertönen, kommt Leben in den alten Igor. Mit großen Gesten schildert er seine glamouröse Vergangenheit beim Wanderzirkus. Atemberaubende Erlebnisse gibt er preis, und das Mädchen Ola ist seine aufmerksamste Zuhörerin. Wir werden mitgenommen in Igors großen Reichtum der Erinnerungen aus Wahrhaftigkeit, Flunkerei und Phantasie und wieder zurück in die geborgene Stimmung der Familie, in der er jetzt zu Hause ist.
Iris Anemone Paul legt Igor die Worte ins Mäulchen und zeigt Bilder dazu, die seine Zirkuswelt präsentieren. Sie begeistert, verwundert und verwirrt, sie führt uns auf schönste Art vor Augen, wie Erzählkunst sich entfalten kann, wenn Text und Bild in ästhetischer Spannung zueinander stehen. Nicht zuletzt der auf den ersten Blick etwas spröde Charme der wirkungsstarken Siebdrucke macht aus Igors Geschichte ein Gesamtkunstwerk.
Unser Favorit und Gewinner in der Kategorie Kinderbuch
Vier Wünsche ans Universum
ISBN: 978-3-423-64044-2
dtv Reihe Hanser
14,95 €
Ab 10 Jahren
Jurybegründung
Der 11-jährige Virgil ist extrem schüchtern und schafft es trotz aller Vorsätze nicht, seine Klassenkameradin Valencia anzusprechen. Valencia ist selbstsicher und unabhängig, aber fast taub, weshalb auch sie nur schwer Freunde findet. Damit nicht genug werden beide von Chet, einem Fiesling der übelsten Art, gemobbt. Unabhängig voneinander suchen Virgil und Valencia Hilfe bei Kaori, einem Mädchen, das anderen ihre hellseherischen Fähigkeiten anbietet. Auf dem Weg zu Kaori trifft Virgil auf Chet. Zufall? Oder Fügung? Fest steht, dass diese folgenreiche Begegnung das Schicksal aller verändert. Es kommt zu einem finalen Showdown im Wald, an dessen Ende die Kinder über sich hinauswachsen und ihre Ängste überwinden.
Die amerikanische Autorin Erin Entrada Kelly schreibt in kurzen Kapiteln, aus vier unterschiedlichen Perspektiven, von Resilienz, Freundschaft und Hoffnung. Überzeugend konstruiert und großartig miteinander verwoben, hat jede Figur ihre eigene Stimme und Geschichte. Mit viel Feingefühl und Respekt ist daraus eine fesselnde Erzählung entstanden, die lange nachklingt. Birgitt Kollmann hat das Buch ausdrucksstark und sensibel aus dem Englischen übertragen.
Unser Favorit in der Kategorie Jugendbuch
Neal Shusterman / Brendan Shusterman (Illustration) /Ingo Herzke (Übersetzung)
Kompass ohne Norden
ISBN: 978-3-446-26046-7
Hanser
19,00 €
Ab 15 Jahren
Jurybegründung
Der 15-jährige Caden wird in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Diagnose: Schizophrenie und bipolare Störung. Was er in seiner schwer zugänglichen, verworrenen Welt erlebt, schildert er in einer verstörend-packenden Geschichte. Brunnen, Trichter, ein Sprung vom Hochhaus und der Mariannengraben – der Sog der Tiefe und die Panik vor dem freien Fall sind bestimmende Motive des Erzählens. Zusätzlich gibt es eine zweite, phantastische Erzählebene. Ein Schiff, seine bizarre Besatzung und mittendrin Caden. Unweigerlich werden die Leserinnen und Leser in sein Unterbewusstsein hineingezogen und verstricken sich in Realität und Wahn.
Mit einer beeindruckend bildlichen Sprache, Wortspielen und irrwitzigen Einfällen, die Ingo Herzke hervorragend ins Deutsche übertragen hat, macht Neal Shusterman ein schwer greifbares Thema anschaulich. Er kennt die Problematik aus nächster Nähe, bei seinem Sohn Brendan wurde eine schizo-affektive Störung diagnostiziert. Brendans Skizzen und Zeichnungen aus der Zeit in der Klinik sind in das Buch integriert und lassen seine Erfahrungswelt auf höchst eindringliche Weise sinnlich erfahrbar werden.
Der Gewinner in der Kategorie Jugendbuch
Jurybegründung
Anfang der 1960er Jahre, ein Vater, die Mutter tot, zwei Söhne, die heranwachsen. Der Vater arbeitet hart, trotzdem ist wenig Geld da. Die Jungs sind tagsüber auf sich selbst gestellt. Sie sind weder gewaschen noch gekämmt, ihre Kleidung ist dreckig. Einmal in der Woche sorgt Tante Alice für das Nötigste. Prekäre Verhältnisse, könnte man meinen.
Aber es wird eine andere Geschichte erzählt. Vignettenartig reiht Harry, der ältere Sohn und Ich-Erzähler, Eindrücke und Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend aneinander. Die gebrochenen Zeilen geben den Rhythmus vor für das Vielfältige, für das Große und Kleine, was das Leben ausmacht: die Fürsorge füreinander, die Liebe des Vaters, der den Halbwüchsigen etwas zutraut, auch wenn sie Unsinn machen, die Streiche und Raufereien, die Freundschaften, die schweren Verluste, die Hoffnungen und Träume.
Es ist ein Buch, das ermutigt und nicht verzweifeln lässt – trotz aller Umstände. Es ist ein Buch, das mitwächst und sowohl junge als auch erwachsene Leserinnen und Leser berührt. Nicht zuletzt gelingt dies durch die feinsinnige, poetische Sprache, die für die Schönheit des Lebens mit allen Sinnen empfänglich macht. Die Ästhetik des Textes entfaltet sich auch in der meisterlichen Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn.
Unser Favorit und Gewinner in der Kategorie Sachbuch
Anja Reumschüssel
Extremismus
ISBN: 978-3-551-31734-6
Carlsen
6,99 €
Ab 13 Jahren
Jurybegründung
Es ist trotz Taschenformat nicht zu übersehen. Dieses rote Jugendsachbuch, das seinen Titel gleich auf dem Cover durch Kurztext und Bildsymbole definiert. Kein Schnickschnack, der vom wichtigen Anliegen ablenkt, eben Klartext. Genauso verlangt es der Reihenname, unter dem Anja Reumschüssel ihr rechercheaufwändiges Buch veröffentlichte.
Sie verhilft durch übersichtliche, logisch-kausale Gliederung des umfangreichen Stoffes zu rascher Orientierung. Anschaulich und leicht verständlich definiert sie Begriffe (z. B. „radikal“), räumt wie nebenbei mit Klischees auf, analysiert akribisch genau diverse Erscheinungsformen des virulenten Phänomens „Extremismus“. Entstehungsmöglichkeiten – auch historisch – werden durchleuchtet und alle Untersuchungen durch treffende Beispiele (wie etwa „Rechtsextremismus“) belegt. Zudem überzeugt das Buch mit sauber nachprüfbaren Internet-Quellenangaben in einem zehnseitigen Anhang.
So gelingt es, die Fülle des Stoffes differenziert und doch angemessen reduziert abzubilden. Alle Überlegungen münden in der Frage: „Wie kannst du helfen?“ Auch hier folgt man gern dem Motto der Autorin, die sich für Aufklärung und Bildung einsetzt. Ein Buch, das ein unmissverständliches Zeichen für Demokratie setzt.
Unser Favorit in der Kategorie Preis der Jugendjury
Karen M. McManus / Anja Galić (Übersetzung)
One of us is lying
ISBN: 978-3-570-16512-6
cbj
18,00 €
Ab 14 Jahren
Jurybegründung
Fünf Schüler müssen nachsitzen: Bronwyn, die Streberin, Addy, die Klassenschönheit, Nate, der Drogendealer und Cooper, der begnadete Baseball-Spieler. Der fünfte, Simon, hat die berüchtigte Gerüchte-App der Schule programmiert. Er ist verantwortlich dafür, dass unzählige Mitschüler bloßgestellt wurden. Als Simon plötzlich zusammenbricht und später stirbt, geraten alle vier unter Verdacht. Denn Simon starb keines natürlichen Todes und jeder hat etwas zu verbergen, oder?
„Es war, als wäre die Story eine Stromschnelle, die mich in die Tiefe zieht.“ (Lana, Jurymitglied)
Vordergründig hat Karen M. McManus einen extrem spannenden Krimi geschrieben. Mit klarer Sprache zeichnet sie eine nachdrückliche Geschichte, die von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Die Protagonisten werden zu Beginn der Erzählung fast klischeehaft dargestellt. Gerade dadurch spiegeln sie die Lebenswelt der Leserinnen und Leser eindrucksvoll wider. Auf einer zweiten Ebene beginnt eine intensive Entwicklung der Hauptfiguren, auch der Nebendarsteller, dies bietet viel Raum zur Identifikation. Der Autorin gelingt es, unaufdringlich wichtige gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen. Das Buch schafft den Spagat zwischen spannender Unterhaltung und Gesellschaftskritik ohne moralischen Zeigefinger, eher beschreibend und fragend als festgelegt und vorgegeben.
Der Gewinner in der Kategorie Preis der Jugendjury
Neal Shusterman / Brendan Shusterman (Illustration) /Ingo Herzke (Übersetzung)
Kompass ohne Norden
ISBN: 978-3-446-26046-7
Hanser
19,00 €
Ab 15 Jahren
Begründung der Jugendjury
Wie fühlt es sich an, wenn man tief im eigenen Kopf verloren ist? Mit viel Mitgefühl und Authentizität erzählt dieser Roman vom 15-jährigen Caden, einem ganz normalen Teenager. Er ist liebenswürdig und sympathisch, bis sich eines Tages alles verändert und er mehr und mehr abdriftet.
Zusammen mit seinem Sohn, der selbst von der Krankheit betroffen ist, beschreibt Neal Shusterman Cadens Wahrnehmung und wie es sich anfühlt, schizophren zu sein. Die Erkrankung wird mit all ihren Auswirkungen gezeigt. Die Sichtweise wechselt zwischen Cadens „realer“ Welt und seinen Wahnvorstellungen. Vor allem am Anfang ist die Verknüpfung dieser beiden Pole verwirrend und undurchsichtig, doch mit der Zeit kann man sie unterscheiden.
Der Schreibstil ist bedrückend und real. Das Chaos in Cadens Kopf wirkt beängstigend und poetisch zugleich. Es ist erschreckend, was eine psychische Erkrankung mit dem menschlichen Verstand anstellen kann. Diese Geschichte ist unglaublich wichtig, denn sie zeigt uns, welchen Kampf psychisch kranke Menschen immer wieder austragen.
Kompass ohne Norden sensibilisiert, macht Mut und klärt auf. Etwas ganz Besonderes und Einzigartiges.